Ortsgeschichte-Projekte (Regionale Erinnerungen)
(Hinweis auf Übersicht: Das Lexikon - Inhaltsverzeichnis)
Zielsetzung und Wirkung auf Senioren
Das Hauptziel eines Ortsgeschichte-Projekts ist es, Identität und Selbstwertgefühl der Heimbewohner zu stärken. Indem man Lebensgeschichten und lokale Bezüge aufgreift, erleben die älteren Menschen, dass sie gesehen und als einzigartige Persönlichkeiten wahrgenommen werden. Die Teilnehmenden erkennen sich selbst in vertrauten Szenerien (z. B. dem eigenen Heimatort) wieder und können ihre Geschichte aktiv mitgestalten. Forschung und Praxisberichte betonen, dass Biografiearbeit die Beziehung zwischen Pflegekräften, Bewohnern und Angehörigen verbessert und das Vertrauen fördert. Bewohner fühlen sich in ihren Bedürfnissen ernst genommen, und das gemeinsame Erinnern schafft Gemeinschaftserlebnisse.
Die kognitiven Effekte sind ein weiterer wichtiger Aspekt: Durch den Rückgriff auf lang abgelegte Erinnerungen wird das Langzeitgedächtnis angeregt. Etwa können Senioren, die früher in der Landwirtschaft gearbeitet haben, bei einem Spaziergang zu alten Bauernhöfen plötzlich ihre Erntegeschichten erzählen. Bei Menschen mit leichter bis mittlerer Demenz wirkt das wie ein Training: Bekannte Gesichter, Orte und Ereignisse reaktivieren neuronale Verknüpfungen und erhalten geistige Fitness. So berichtet eine Pflegekraft, dass DDR-spezifische Tage im Heim die „grauen Zellen“ erfrischt hätten: Gespräche über frühere Feste und Lieder der Jugend lösten bei den Bewohnern sogleich lebhafte Erinnerungen aus. Ähnlich fand ein Seniorenheim durch Ahnenforschung heraus, dass „ein sprudelnder Quell der Erinnerungen“ ausgelöst wurde, wenn Bewohner angeregt wurden, über Familiengeschichte und Vergangenheit zu sprechen.
Die emotionale Wirkung ist ebenfalls positiv. Erinnerungen an schöne Jugendtage erzeugen Stolz, Freude und Geborgenheit. Viele Ältere erleben, dass sie durch das Erzählen ihrer Geschichte Aufmerksamkeit und Respekt erhalten – etwas, das der Alltag im Pflegeheim nicht immer bietet. Diese Wertschätzung verbessert die Stimmung: Die Bewohner blicken optimistischer in die Gegenwart und gehen Herausforderungen gelassener an. Ein weiterer Effekt ist, dass manch schwieriges Verhalten zurückgeht, wenn ein Mensch sich verstanden und aufgehoben fühlt. Insgesamt erhöhen Ortsgeschichte-Projekte die Lebensqualität der Senioren, indem sie Erinnerungsstücke, Geschichten und persönliche Gegenstände gezielt einsetzen, um Wohlbefinden und Zusammenhalt zu fördern.
Unterschiede bei fitten Senioren und Menschen mit Demenz
In der Praxis ist es wichtig, die Methode an die kognitiven Fähigkeiten der Teilnehmenden anzupassen. Fitte Senioren können meist aktiv an Recherchen teilnehmen: Sie können Zeitzeugen befragen, alte Dokumente lesen oder in gemächlichem Tempo Stadtspaziergänge mitmachen. Komplexere Aufgaben wie das Schreiben von Erinnerungsberichten, das Erstellen einer Heim-Broschüre oder ein gemeinsames Interview mit lokalen Zeitzeugen sind hier möglich. Bei dieser Gruppe kann das Projekt eher selbstgesteuert ablaufen – etwa in kleinen Arbeitsgruppen mit Vorbereitung durch Betreuungspersonen. Die Verbindung zur Region stärkt ihr Selbstwertgefühl und fordert sie geistig.
Menschen mit Demenz benötigen dagegen meist stärker geführte, sinnlich orientierte Angebote. Hier dienen besonders einfache, wiedererkennbare Reize als Anker: Bilder alter Dorfläden, ein vertrauter Geruch (z. B. Brot aus dem Nachbarbäcker) oder eingängige Heimatlieder. Die Inhalte müssen klar strukturiert und liebevoll moderiert werden. Komplexe Dokumente oder das Abschreiben langer Texte sind ungeeignet; stattdessen helfen kürzere Gesprächsimpulse oder Einzelbilder mit erläuternden Stichworten. Auch sollte die Gruppe für Demenzkranke kleiner sein und eventuelle Lern- oder Schlafpausen einplanen. Bei beiden Zielgruppen gilt: Das Vermitteln von Erinnerungen und Wohlfühlatmosphäre steht im Vordergrund, nicht das Erreichen eines Bildungsziels.
Vor- und Nachteile dieser Methode
Vorteile: Ortsgeschichte-Projekte sprechen viele Sinne und Fähigkeiten an. Sie regen das Sehen (Fotos, Filme), Hören (Erzählungen, Musik) und oft auch den Geruchssinn an (z. B. lokale Speisen, Hofdüfte). Dadurch werden kognitive Funktionen schonend trainiert und die Gemeinschaft gestärkt. Die Bewohner können Themen wählen, die sie persönlich interessieren – sei es die alte Schulstraße, lokale Bräuche oder bekannte Landschaften – was das Engagement erhöht. Anders als manche Beschäftigungen erfordert Ortsgeschichtsarbeit meist keine große körperliche Anstrengung, so dass auch mobilitätseingeschränkte Senioren teilnehmen können. Für Demenzkranke bietet die Methode wertvolle „Anker“: Bilder und Geschichten aus der Heimat stützen ihr Selbstbild und geben Orientierung. Zu guter Letzt sorgt die gemeinsame Aktivität für Spaß und Abwechslung im Alltag – etwa indem alte Karnevalslieder gesungen oder Schmalztigkeiten aus der Heimat gekostet werden. Die angenehme Atmosphäre und das gemeinsame Lachen über alte Schnappschüsse steigern das Wohlbefinden.
Nachteile: Wie jede Aktivität hat auch diese Grenzen. Bei fortgeschrittener Demenz können sogar einfache Diavorträge oder Erzählnachmittage überfordern – vor allem wenn das Material zu detailreich ist. Deshalb empfiehlt es sich, die Inhalte sehr behutsam zu wählen und bei Bedarf frühzeitig pausieren zu lassen. Auch sollte man darauf achten, keine schmerzhaften Erinnerungen anzusprechen (wie Kriegsereignisse oder persönliche Verluste) – dies könnte Ängste oder Traurigkeit auslösen. Die Atmosphäre muss gemütlich gestaltet sein; zu viel Dunkelheit (etwa beim Filmvorführen) kann unsicher machen. Ein praktischer Nachteil ist der Vorbereitungsaufwand: Material (Fotos, Zeitungsartikel, Ausstellungsstücke) muss gesammelt, sortiert und technisch aufbereitet werden, was Pflegekräfte zusätzlich beansprucht. Nicht alle Heime haben Geräte wie Beamer oder Scanner sofort griffbereit, und es kann technische Schwierigkeiten geben (defekte Diaprojektoren, Blendungseffekte etc.), die Frust erzeugen. Manche Bewohner nehmen anfangs auch nur höflich teil, ohne echtes Interesse zu zeigen, weshalb Betreuende Geduld und Erfahrung in Gesprächsführung brauchen. Insgesamt gilt: Der Aufwand muss gegen den erwartbaren Nutzen abgewogen werden – in vielen Einrichtungen lohnt sich dieser Einsatz aber durch die positiven Effekte auf Gemeinschaft und Bewohnermotivation.
Umsetzung in der Praxis
Varianten für verschiedene Zielgruppen
Fitte Senioren: Diese Gruppe kann aktiv mitarbeiten. Planen Sie Projekte, die Eigeninitiative ermöglichen, etwa das Sammeln alter Postkarten aus der Region, Stadtspaziergänge mit Dokumentationsaufgaben oder Arbeitsgruppen zur Erstellung einer „Heimat-Zeitung“ im Heim. Hier können Aufgaben wie Recherche in Gemeindearchiven oder technische Begleitung durch Mitarbeitende erfolgen. Sinnvoll ist es, wenn Betreuende den Ablauf nur moderieren und die Senioren selbst Fragen sammeln oder Geschichten aufschreiben. So erhalten die Aktiven ein Erfolgserlebnis und das Gruppenklima verbessert sich.
Menschen mit Demenz: Für sie müssen Angebote stark an Wahrnehmung und Routine anknüpfen. Variante: Führen Sie z. B. einen fiktiven „Heimatmarkt“ im Gemeinschaftsraum durch, bei dem örtliche Produkte, Trachten und Musik thematisiert werden. Nutzen Sie Fotoalben mit großen klaren Bildern von Dorfmotiven, Kirchen oder Schullandfotos. Auch einfache Projekttafeln oder Erinnerungsbücher mit wenigen Texten pro Seite bieten sich an. Wichtig ist langsames Tempo und viel Wiederholung. Helfen Sie etwa beim Betrachten von Zeitungsausschnitten oder bringen Sie Gegenstände als Erinnerungshilfen mit (etwa ein altes Werkzeug, das nach der alten Dorfschmiede riecht). Gehen Sie behutsam vor und stoppen Sie, wenn die Teilnehmenden müde sind.
Ein Überblick über methodische Unterschiede:
Methode/Material
Eignung für fitte Senioren
Eignung für Menschen mit Demenz
Fotoalben (Heimatbilder)
Grundlage für Diskussionen und Recherche;
Nutzer können Beschriftungen lesen und Informationen ergänzen.
Bekannte Orte und Gesichter als Anker (einfache Szenen, wenig Text).
Alte Zeitungen / Archiv
Lesen und Aussortieren von Artikeln, gemeinsame Ausarbeitung einer Chronik oder Zeitung.
Große Zeitungsausschnitte mit Bildern; gemeinsam mehrere Artikel betrachten, Bilder zuordnen lassen.
Ortskarten / Stadtpläne
Vergleich „früher – heute“;
Senioren zeichnen alte Schulwege oder Lieblingsplätze ein.
Folien- oder Streifenkarten mit markierten Punkten, an denen man vorbeigeht (gerade Wege).
Spaziergänge / Exkursion
Geführte Ortsführung mit Erzählschleifen (beschriftete Fotos mitnehmen).
Kurze Spaziergänge im Park oder Ortsteil, dabei an vertraute Plätze halten und Erinnerungen erfragen.
Ausstellung/Ausstellungstag
Große Bildtafeln, Luftbilder, Geräte von früher;
Senioren betreuen selbst Ausstellungsstände.
Kleingruppenführung durch eine Fotodokumentation im Haus; interaktive Schautafeln mit ertastbaren Objekten.
Interviews / Erzählrunden
Senioren interviewen sich gegenseitig oder berichten zu festgelegten Themen (z. B. „Wie war die erste Liebe?“).
Kurzinterviews mit Betreuern oder Angehörigen zu einzelnen Stichworten; Hörgeschichten (auf Tonband).
Methodenvorschläge und Materialien
Fotoalben und Bilder: Bitten Sie Angehörige und örtliche Archive um altes Fotomaterial: Postkarten vom Dorfplatz, Bilder von Schulklassen früher oder Fotos vom Festumzug. Ein diaprojektor bzw. Beamer kann alte Dias oder digitalisierte Bilder zeigen. So erwachen Orte und Menschen aus der Heimat visuell wieder zum Leben. Damit auch Menschen mit Demenz folgen können, sollten Bilder klar erkennbar und nicht überladen sein.
Zeitungsartikel, Heimatbücher, Landkarten: Sammeln Sie historische Artikel über die Gemeinde oder Marktplatzumbau. Kopien von Postkarten und Zeitungsseiten (z. B. aus den 1950er Jahren) lassen sich gut als Gesprächsstoff nutzen. Ein altes Heimatbuch (oft in Stadtbibliotheken) bietet ebenfalls Fotos und Geschichten. Karten aus früheren Jahrzehnten zeigen veränderte Ortspläne und können kombiniert mit heutigen Karten spannendes Material für Vergleiche bieten.
Museen und Ausstellungen: Planen Sie Kooperationen mit Heimatmuseen oder Kulturvereinen. Manche Museen bieten Wander-Ausstellungen speziell für Seniorenpflegeheime an. Alternativ können Sie eine eigene Miniausstellung im Heim veranstalten. Ein Beispiel: In Luxemburg richtete ein Pflegeheim einen „Zeitreise-Weg“ mit bis zu 40 historischen Bildern und Originalgegenständen ein, der täglich besichtigt werden kann. Dies motivierte Mitarbeiter und Bewohner, beim Zusammenstellen alter Fotoalben oder Objekte aktiv mitzuwirken.
Spaziergänge und Ortsbegehungen: Nutzen Sie die nähere Umgebung des Heims: Gehen Sie mit den Senioren zu bekannten Plätzen, wie der alten Kirche, dem Kaufhaus von früher oder dem Heimatmuseum. Vor Ort können Fragen gestellt werden: „Wer hat hier eingekauft?“, „Wie hat der Brunnen damals ausgesehen?“. Für Demenzkranke genügen oft wenige Meter und vertraute Route, während fitte Senioren ausführlicher reflektieren können. Fotokameras mitnehmen, um im Anschluss gemeinsam Bilder zu besprechen.
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